Die Boston Celtics haben eine historisch dominante NBA-Saison hinter sich. Das Team scheint mit überzeugenden 64 Siegen im Rücken wieder einmal bereit für einen tiefen Playoff-Run. Dabei sind längst noch nicht alle Fragen geklärt.
Mitte Februar während dem All-Star-Break gab es ein ungewohntes Bild: Celtics-Coach Joe Mazzulla steht auf einem Fußballfeld. Im Hintergrund das Trainingsgelände von Manchester City. Der 35-Jährige spricht mit einer Gruppe Spieler, unter anderem Ruben Dias, Phil Foden und Jeremy Doku.
„Wir schauen genau auf euer Aufbauspiel. Die sechs, sieben Pässe bis zu einer Flanke oder einem Abschluss“, erklärt der NBA-Trainer auf dem Youtube-Kanal von ManCity den Spielern seinen Besuch bei den Citizens und Pep Guardiola. „Und dann interessieren uns noch die Konter – beim Basketball ist im Grunde das ganze Spiel ein Konter.“
Die Boston Celtics und Manchester City verbindet nicht nur das gegenseitige Interesse ihrer Trainer. Beide Mannschaften gelten momentan als die wohl talentiertesten ihrer Sportart. Das Team von Guardiola konnte vergangene Saison das Triple, inklusive des langersehnten Champions-League-Titels, feiern. Aber Talent bedeutet nicht immer gleich Erfolg.
Das haben die Celtics erst letztes Jahr schmerzlich erfahren müssen. In den Eastern-Conference-Finals verlor man gegen die an acht gesetzten Miami Heat. Vor der Serie waren sich alle amerikanischen Experten einig gewesen, dass nur Boston ins Finale einziehen könne – entsprechend die Enttäuschung.
Die Ausgangssituation vor den diesjährigen Play-Offs ist ähnlich.
Verteidigung ist die beste Verteidigung
Eines ist klar: Die Boston Celtics sind auf dem Papier dieses Jahr das beste Team der NBA. Mit 64 Siegen holte die Mannschaft um Superstar Jayson Tatum sieben Siege mehr als die zweitbesten Teams der Liga, Denver und Oklahoma City – sogar 14 mehr als die im Osten zweitplatzierten New York Knicks. Die Celtics haben dabei die beste Offensive und die zweitbeste Defensive der NBA und damit ihr bestes Net-Rating seit 16 Jahren.
Defensiv herausragend: Jrue Holiday und Derrick White.
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Schlüssel für die gute Defensive ist der Back-Court. Der vor der Saison ertradete Jrue Holiday und sein Nebenmann Derrick White spielen auf All-Defense-Niveau und lassen die gegnerischen Guards verzweifeln. Sie kämpfen sich um Screens, bleiben vor dem Angreifer und selbst wenn sie geschlagen sind, bleibt die Gefahr eines Blocks von hinten.
Aber auch mit Blick auf die restlichen Positionen hat Boston defensiv einen entscheidenden Vorteil: keine Schwachstelle. Oft sind alle fünf Spieler auf dem Court für ihre jeweilige Position überdurchschnittlich gute Verteidiger. Das erleichtert nicht nur grundlegend die Matchups, sondern ermöglicht auch flexibles switchen. Kaum ein Spieler kann für Mismatches vom Gegner gesucht und attackiert werden.
Die Stars haben verstanden
Jayson Tatum wird in der MVP-Wahl wohl nicht über einen fünften Platz hinauskommen. Und das, obwohl er der beste Spieler des besten Teams der NBA ist. Das liegt teilweise an den absurden Leistungen anderer Spieler, teilweise aber auch an Tatums mannschaftsdienlicher Spielweise. Sowohl er als auch sein Star-Kollege Jaylen Brown haben verstanden, was Coach Mazzulla von ihnen braucht, um das bestmögliche Team zu formen. Und das sind nicht die lauten Zahlen.
Tatum macht im Schnitt drei ganze Punkte weniger als letzte Saison (27). Dafür legt er mit 4,9 ein Carreer-High in Assists auf. Auch seine Usage Rate – der Anteil an Ballbesitzen, die er abschließt – ist so niedrig wie zuletzt vor drei Jahren. Ähnliches gilt für Jaylen Brown.
Das heißt natürlich nicht, dass sich die beiden Stars zurücklehnen. Man hat eher das Gefühl, beide wissen Kraft und Talent besser einzusetzen – zumindest über drei von vier Viertel.
Nerven in der Crunchtime
Die Celtics sind generell nicht das schnellste Team, nehmen sich häufig Zeit, die Defensive mit abwechslungsreichen Sets und Pässen auseinanderzuspielen und so Vorteile zu kreieren – auch hier wieder eine Parallele zu Manchester City.
Das Ganze wird noch extremer, schaut man auf die Geschwindigkeit in Clutch-Situationen, also in den letzten fünf Minuten bei knappem Spielstand: Hier steht Boston im Schnitt bei nicht einmal 94 Ballbesitzen pro 48 Minuten – das bedeutet den letzten Platz der NBA. Aber was heißt das konkret?
Bostons historisch gute Offensive funktioniert am besten, wenn der Ball läuft. Fast in jedem Angriff entsteht irgendwann ein offener Wurf. Und weil die Celtics ein so tiefes Roster haben, kann auch fast jeder Spieler diese offenen Würfe hochprozentig nutzen -ein gutes Konzept.
Hier das Problem: Ist das Spiel in der Crunchtime noch knapp, passiert es viel zu oft, dass Boston von dieser Philosophie abweicht. Nicht selten kommt es zu dusseligen Ballverlusten oder uninspirierten Spielzügen. Der Ball wird dann oft Jayson Tatum in die Hand gedrückt, der dann in Isolation das Eins-gegen-eins sucht. Der 26-Jährige ist zwar einer der besten Spieler der Liga und kann diese Situationen für sich entscheiden, effektiv sind die Abschlüsse aber nicht. Und Boston verliert deswegen Spiele.
Dabei könnte die Lösung des Problems ganz nah sein: Kristaps Porzingis.
Kristaps Porzingis im Duell mit Detroits James Wiseman.
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Schlüsselfigur Porzingis
Durch die dominante Saison und den ungefährdeten ersten Platz konnte Mazulla schon einige Line-Ups für die Playoffs ausprobieren und die Belastung seiner Spieler aktiv steuern. Besonders wichtig könnte das bei Porzingis werden.
Der große Lette spielt eine sehr gute erste Saison in Massachusetts. Im Tausch gegen Marcus Smart zu den Kelten gekommen waren die Fans dem dünnen Schlaks gegenüber zunächst skeptisch eingestellt. Die Angst der Celtics-Anhänger galt und gilt dabei nicht möglicherweise ausbleibender Leistung, sondern dem Verletzungsrisiko. Bisher kam der Center glücklicherweise mit kleineren Wehwehchen durch die Saison – und könnte das Clutch-Problem der Celtics lösen.
Porzingis fügt dem Spiel der Kelten eine neue Dimension hinzu. Er ist in der ganzen NBA diese Saison der beste Spieler aus dem offensiven Post-Up – also mit dem Rücken zum Korb. Wenn Boston ihn öfter am Ende enger Spieler in die gefürchteten Mismatch-Situationen gegen kleinere Verteidiger brächte, könnte das eine einfache Lösung für die stotternde Offensive sein.
Mit Selbstverständnis zum Titel?
Zusammengefasst kann man sagen, im Osten gibt es wenig Teams, die Boston dieses Jahr gefährlich werden können. Die Finals müssen erneut das Ziel sein. Das wissen auch die Celtics selbst. Dadurch entsteht ein nicht unwesentlicher Druck, sowohl von außen als auch von innerhalb der Organisation.
Der Kern der Mannschaft ist noch jung und trotzdem schon erfolgsverwöhnt. Vier der letzten sieben Jahre stand man mindestens in den Eastern-Conference-Finals, einmal im Finale gegen Golden State. Wohlwollend kann man in dieser Phase wertvolle Erfahrungen auf der größten Bühne sehen, andererseits muss man sich auch langsam den Ruf der Unvollendeten gefallen lassen.
Nach der dominanten Regular Season deutet vieles auf den nächsten Run in die Finals hin. Sollten dort dann die amtierenden Champions der Denver Nuggets um MVP-Favorit Nikola Jokic warten, wäre Boston wohl das einzige Mal in dieser Post-Season leichter Außenseiter. Denn, anders als Denver oder dem Vorbild Manchester City, fehlt Mazzulla, Tatum und Co. noch die letzte Validierung, um endgültig als Top-Favorit zu gelten: der Beweis, das Talent in Erfolg ummünzen zu können – ein Titel.